16.08.2021

Interviewreihe - Die HWR Berlin und die Evangelische Hochschule RWL im Gespräch.

Das Bund-Länder-Programm „FH-Personal“ fördert 64 Hochschulen, die die gesamte Vielfalt und Bandbreite der Hochschullandschaft in Deutschland repräsentieren. In den kommenden Wochen werden wir mit einer Interviewreihe einen kleinen Einblick in die Diversität der deutschen Fachhochschulen (FH) und Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAW) gewähren und einige dieser im Programm „FH-Personal“ geförderten Hochschulen vorstellen. Die bisherigen Interviews finden Sie hier und hier. Weiter geht es mit der HWR Berlin und der Evangelischen Hochschule RWL.

Das Bild zeigt ein Foto der Hochschulgebäude.
Quelle: Diakonie RWL / Dagmar Schwelle, Collage: PtJ

Herr Professor Zaby, Sie sind seit 2016 Präsident der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Was ist das Besondere an Ihrer Hochschule?

Zaby: Eine echte Besonderheit unserer Hochschule ist natürlich das breite Spektrum an Studienformaten, das wir unseren 11.500 Studierenden anbieten. Neben dem klassischen Fachhochschulstudium haben wir das duale Studium, eng verzahnt mit Unternehmen. Da ist aber auch das große Feld der Studiengänge für den öffentlichen Dienst, insbesondere für Laufbahnen in der Allgemeinen Verwaltung, der Polizei oder in der Justiz, die wir ebenfalls anbieten. Dazu gesellen sich die Fern- bzw. Online-Studiengänge, die bei uns schon vor Corona eine große Rolle gespielt haben, gerade im Bereich der wissenschaftlichen Weiterbildung. Nicht zu vergessen: Die Internationalisierung, die wir leben. Sowohl die Mobilität unserer Studierenden als auch die der Lehrenden ist sehr hoch. Und dann ist eine Besonderheit sicherlich, dass wir in mitten in der pulsierenden Metropole Berlin angesiedelt sind.

Welche Beziehung hat Ihre Hochschule zur Region?

Zaby: Eine sehr enge, in vielen Bereichen. Über das duale Studium haben wir häufigen Kontakt zu den Berliner Unternehmen, auch über die Weiterbildung von Berufstätigen in der Stadt. Genauso ist es mit den Berliner Verwaltungen sowie der Berliner Polizei und Justiz, weil wir ja auch hier Nachwuchskräfte ausbilden. Zur Stadt gibt es also ganz viele Verbindungen auf verschiedenen Ebenen, einschließlich der anwendungsorientierten Forschung im Verbund mit der Praxis. Wir sind zudem sehr aktiv im Bereich Unternehmensgründung, zum Beispiel haben wir mit unserem Gründungszentrum in Siemensstadt einen Zukunftsort für die Entwicklung Berlins etabliert.

Wie beeinflusst Berlin Ihre Arbeit an der Hochschule?

Zaby: Das hat sicherlich zwei Seiten. Auf der einen Seite: Wenn Sie in einer Stadt wie Berlin leben – mit drei riesigen Universitäten, vielen weiteren Hochschulen – müssen sie erstmal durchdringen, erstmal sichtbar werden. Das ist nicht leicht. Auf der anderen Seite haben Sie natürlich auch viele Vorteile, die die Metropole mit sich bringt. Sie haben ein unglaublich attraktives Umfeld. Sie haben junge Menschen aus aller Welt, die sich bewusst entscheiden, in einer solchen Stadt zu leben und zu studieren und später zu arbeiten. Das ist auch ein Magnet für viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Frau Professorin Graumann, Sie sind seit 2017 Rektorin der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe. Was macht ihre Hochschule aus?

Graumann: Darüber könnte ich sehr lange sprechen. Vor allem sind wir eine staatlich refinanzierte Hochschule in Trägerschaft von drei Landeskirchen, der Lippischen, der Westfälischen und der Rheinischen. Das hat den Hintergrund, dass die sozialen Berufe wie die Soziale Arbeit, die Heilpädagogik oder die Pflege vor der Gründung der Hochschule vor allem in den kirchlichen Fachschulen angesiedelt waren und viele große Arbeitgeber unter dem Dach von Diakonie und Caritas stehen. Die staatliche Refinanzierung bringt mit sich, dass wir in vollem Umfang in der öffentlichen Bildungsverantwortung stehen. Dabei kommen unsere Studierenden von allen Religionen und Weltanschauungen und wir bilden für alle - kirchliche und nicht-kirchliche - Träger aus. Die kirchliche Trägerschaft hat trotzdem einen gewissen Einfluss auf unsere Arbeit. Wir legen zum Beispiel großen Wert darauf, unsere Studierenden in der Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen. Dafür stehen die Fächer Ethik und Ästhetik. Wir unterrichten Ethik mit einem bewusst interkulturellen und interreligiösen Ansatz – und sind da auch personell entsprechend ausgestattet. Für unsere zweieinhalb tausend Studierende haben wir vier Professuren in Ethik, in anderen Hochschulen ist das oft maximal eine Person für die ganze Hochschule. Hinzukommt, dass ästhetische Bildung mit fünf Professuren einen hohen Stellenwert in allen Studiengängen hat: Von Theater bis zum Kreativem Schreiben bieten wir da einiges an.

Wie arbeiten Sie mit der Region zusammen?

Graumann: Zunächst einmal ist es natürlich unser Anspruch, die Region mit Fachkräften zu versorgen. Unsere Absolventinnen und Absolventen finden sich in vielen wichtigen regionalen Institutionen, in Jugendämtern, der Wohnungslosenhilfe – oder in Pflegeheimen. Wir haben hier zum Beispiel drei Absolventen im Umkreis, die Pflegeheime leiten. Als es dann zu Beginn der Corona-Krise viele Presseberichte darüber gab, wie krisenhaft die Lage in den Heimen ist, konnten wir auch einfach mal fragen: Wie sieht es denn vor Ort aus? Wir spüren insgesamt eine Verantwortlichkeit für die Region, die wir vor allem durch unsere Absolventinnen und Absolventen in vielen, gesellschaftlich sehr wichtigen Berufen wahrnehmen.

Viele Ihrer wissenschaftlichen Arbeitsfelder in Forschung und Lehre bewegen sich eng an größeren gesellschaftlichen Debatten – als Beispiel sei hier nur die Pflege genannt. Wie beeinflusst das Ihre Arbeit?

Graumann: Unser Ziel ist es schon, dass wir uns an diesen Debatten aktiv beteiligen. Gerade zum Beispiel läuft eine große Kampagne unter dem Titel „take care“ gemeinsam mit der Diakonie Deutschland und der Rektorenkonferenz der kirchlichen Hochschulen. Insgesamt geht es dabei vor allem um die gesellschaftliche Anerkennung sozialer Berufe – ideell wie materiell. Während der Corona-Pandemie haben wir uns früh mit digitalen Veranstaltungen an gesellschaftlichen Debatten beteiligt: Wir haben Veranstaltungen gemacht zur Schulsozialarbeit, zur Situation in den Pflegeheimen, zur Situation von Geflüchteten, Wohnungslosen, Menschen mit Behinderung. Wir sehen es als Aufgabe unserer Hochschule, die Sensibilität für soziale Benachteiligungen zu schärfen.

Sigrid Graumann studierte Biologie mit dem Hauptfach Humangenetik und Philosophie an der Universität Tübingen.  2000 schloss sie ihre erste Dissertation in der Humangenetik über wissenschaftsethische Fragen der somatischen Gentherapie ab. Von 1997 bis 2002 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Interfakultären Zentrum für Ethik in den Wissenschaften in Tübinge. Von 2002 bis Ende 2008 arbeitete sie am Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft in Berlin. 2009 folgte eine zweite Dissertation in der Philosophie über menschenrechtsethische Fragen der UN-Behindertenrechtskonvention an der Universität Utrecht. Von 2009 bis 2011 war Graumann akademische Rätin am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Oldenburg. Seit Oktober 2011 ist sie Professorin für Ethik im Fachbereich Heilpädagogik und Pflege an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe. Seit März 2017 ist Graumann Rektorin der Hochschule.

Kommen wir zum Thema „FH-Personal“. Herr Zaby, welche Erfahrungen haben Sie in den vergangenen Jahren bei der Besetzung von Professuren gemacht?

Zaby: Wir haben durchaus Disziplinen, in denen die Nachwuchsgewinnung ganz gut funktioniert. Aber es gibt eben auch Disziplinen, bei denen wir größte Schwierigkeiten haben. Klassiker sind dabei natürlich die Ingenieurwissenschaften und die Informatik. Aber beispielsweise auch im Rechnungswesen oder in bestimmten Rechtsgebieten fällt es uns alles andere als leicht, Professuren zu besetzen. Da bekommen wir einfach nicht genügend Bewerbungen. Oft ist es auch so, dass Menschen mit Anfang 40 zu der Erkenntnis kommen, dass sie an einer Universität keine Professur bekommen. Dann probieren sie es an der HAW/FH – und fallen aus allen Wolken, wenn sie feststellen, dass sie nicht mal zur Probelehrveranstaltung eingeladen werden, weil sie über keinerlei Praxiserfahrung verfügen.

Wie kann „FH-Personal“ da helfen? Wie möchten Sie das ändern?

Zaby: Wir möchten früher ansetzen. Wir möchten den Leuten sagen: Seht zu, dass ihr auch mal mehrere Jahre außerhalb der Universität verbringt, um verschiedene Karriere-Möglichkeiten zu haben. Ich bin sowieso der festen Überzeugung, dass ein bisschen Praxis noch nie jemandem geschadet hat. Ähnlich ist es in der Industrie: Da gibt es auch viele hochqualifizierte Persönlichkeiten, die in Frage kommen würden, denen aber der Doktortitel fehlt. Da wollen wir in systematischer Weise das wunderbare Instrument des Lehrauftrags nutzen, um Leuten in der Industrie zu sagen: Mensch, die Studierenden können unglaublich profitieren von euren Praxiserfahrungen, übernehmt doch mal einen Lehrauftrag bei uns. Und wenn dir das gefällt, dann können wir ins Gespräch kommen, wie du dich weiter qualifizieren könntest, um dann später mal auf eine Professur hinzuarbeiten.

Welche Maßnahmen planen Sie noch?

Zaby: Im ersten Schritt wollen wir ein ganzheitliches professorales Personalwesen. Das haben wir bisher noch nicht systematisch betrachtet. Wir brauchen eine Arbeitgebermarke, damit wir unsere Zielgruppen besser ansprechen können. Der zweite Schritt ist dann, diese Menschen auch wirklich zu gewinnen. Wir müssen in der Lage dazu sein, attraktive Angebote zu machen. Wir müssen auch dazu in der Lage sein, in der späteren Personalentwicklung aufzuzeigen, wie es weiter gehen kann. Es reicht nicht, sich nur auf das Berufungsverfahren zu konzentrieren. Sondern es muss Möglichkeiten geben, sich weiterzuentwickeln. Da wollen wir ein professionelles Angebot machen. Dafür brauchen wir ein Team. Und das wäre ohne „FH-Personal“ kaum möglich.

Andreas Zaby studierte Betriebswirtschaftslehre in Bayreuth und San Diego. Von 1994 bis 1998 arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, an der er 1998 seine Promotion abschloss. Es folgten zwei Jahre als Strategieberater, bevor Zaby 2000 gründendes Vorstandsmitglied eines biopharmazeutischen Unternehmens wurde. 2008 folgte der Wechsel als Professor für Internationales Management an die Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Von 2010 bis 2014 war Zaby Vizepräsident der Hochschule, von 2014 bis 2016 Erster Vizepräsident. Seit April 2016 ist er Präsident der HWR Berlin.

 

Frau Graumann, welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Graumann: Wir stehen bei der Besetzung von Professuren generell vor größeren Herausforderungen als die Universitäten. Das hat meines Erachtens vor allem zwei Gründe. Der erste ist, dass die wissenschaftlichen Karrieren in den vergangenen Jahren immer geradliniger geworden sind. Viele bleiben nach der Promotion an den Universitäten und drehen keine beruflichen Schleifen. Dadurch fehlt dann für eine HAW/FH-Professur oft die berufliche Praxis. Andere gehen in die Praxis, haben zwar wissenschaftliche Interessen, aber nicht genug Zeit für eine Promotion. Und der zweite Grund, warum es uns schwerfällt, Professuren zu besetzen, hat mit unseren Fächern zu tun. Viele dieser Fächer gibt es an Universitäten nicht, sehr selten oder nicht eins zu eins. Das erschwert eine wissenschaftliche Karriere für unsere Absolvierende und damit für uns die Suche nach promovierten Talenten, die Interesse an einer HAW/FH-Professur haben könnten.

Wie hilft da FH-Personal? Welche Ideen haben Sie?

Graumann: Zum einen wollen wir Nachwuchskräften, die frisch promoviert von der Universität kommen und denen noch die berufliche Praxis fehlt, zu dieser Praxis verhelfen – indem sie zur Hälfte bei uns arbeiten und zur anderen Hälfte bei Einrichtungen der Träger, mit denen wir kooperieren. Zum anderen nehmen wir unsere Lehrbeauftragten, die aus der Praxis kommen, ins Auge. Das sind oft Leute, die eine Promotion angefangen haben, die auch bei uns manchmal in Forschungsprojekten mitarbeiten – denen es aber aufgrund ihrer Arbeitsbelastung bisher einfach nicht möglich war, eine Promotion abzuschließen. Ihnen wollen wir Freistellungen über einen längeren Zeitraum ermöglichen, damit sie sich entsprechend wissenschaftlich qualifizieren können. Parallel wollen wir dafür sorgen, dass so an unserer Hochschule ein forschungsfreundliches Umfeld entsteht. Wir wünschen uns, dass Gruppen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Projekten zusammenarbeiten und dadurch eine promotionsfreundliche Ideenschmiede entsteht, in der sich die Nachwuchskräfte auch gegenseitig ermutigen, sich an eine Promotion zu machen.

Planen Sie Kooperationen?

Graumann: Viele Kooperationen etwa mit Universitätsprofessorinnen und -professoren bestehen schon, die kooperative Promotionen ermöglichen. Diese Kooperationen wollen wir weiter ausbauen und hoffen, dass diese jetzt durch das Programm auch nochmal neuen Schwung erhalten. Außerdem sind wir Teil des im Aufbau befindlichen Promotionskollegs NRW. Ein Vorteil mit Blick auf Praxiskooperationen ist sicherlich auch unser enger Draht zur zu diakonischen und anderen Trägern. Wir sind da sehr gut vernetzt, ob das jetzt mit den Jugendämtern ist, in der Behindertenarbeit oder in der Geflüchtetenhilfe.

Herr Zaby, wie sieht es bei Ihnen aus?

Zaby: Zusätzlich zu akademischen Kooperationenwollen wir auf der Praxisseite vor allem eng mit Berlin Partner zusammenarbeiten. Berlin Partner fördert Wirtschaft und Technologie, wird vom Land und von den Berliner Unternehmen getragen und stellt somit einen Multiplikator dar. Da ist die Zusammenarbeit deutlich effektiver und vielversprechender als der Versuch, mit hunderten kleineren Einzelunternehmen in den Dialog zu treten.

Die letzte Frage: Was macht eine FH-Professur für sie attraktiv?

Graumann: Ich glaube, das kann ich ganz persönlich beantworten. Mein Forschungsfeld ist die angewandte Ethik. Ich habe Humangenetik und Philosophie studiert, habe in beiden Fächern promoviert und habe dabei selbst immer interdisziplinär gearbeitet. Das ist an einer Uni nicht einfach, vor allem, wenn man dann auch noch zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften hängt. Eine Universitätskarriere mit dem Ziel Professur war für mich angesichts der strengen Fächerkultur schwierig bis aussichtslos. Das ist an HAW/FH anders. Hier arbeiten wir in interdisziplinären Teams zusammen, in der Forschung und in der Lehre - und beides mit starker Praxisorientierung. Daher meine ich, dass für die, die anwendungsorientiert und interdisziplinär arbeiten wollen, eine HAW/FH-Professur ein ideales Ziel ist.

Zaby: Auch ich kann da eine persönliche Antwort geben. Nachdem ich viele Jahre in der biopharmazeutischen Branche arbeitete, haben wir das von mir mitgegründete Unternehmen 2008 verkauft. Das war so eine Zäsur, in der ich mich auch fragte: Wie geht es jetzt weiter? Und da habe ich mich an meine Zeit an der Uni erinnert und nach so langer Zeit in der Praxis gedacht: Professor an einer HAW/FH, das könnte doch ziemlich interessant sein für mich. Ich habe mich informiert, habe die spannende Ausschreibung in einer spannenden Stadt gesehen. Und so bin ich an der HWR Berlin gelandet – bereut habe ich es bis heute keinen Tag. An der HAW/FH kann man etwas tun, was einen persönlich erfüllt: Man kann zur Bildung junger Menschen beitragen. Man kann selbst forschend tätig sein und vor allem Spaß daran haben, die Forschung in Zusammenarbeit mit der Praxis anwenden zu können. Es ist unglaublich bereichernd, all das tun zu können, ohne externen Vorgaben folgen zu müssen. Denn die Freiheit von Forschung und Lehre gilt uneingeschränkt. In der Praxis ist das Korsett deutlich enger.