21.09.2021

Interviewreihe - Die TH Mittelhessen und die Jade Hochschule im Gespräch

Das Bund-Länder-Programm „FH-Personal“ fördert 64 Hochschulen, die die gesamte Vielfalt und Bandbreite der Hochschullandschaft in Deutschland repräsentieren. In den kommenden Wochen werden wir mit einer Interviewreihe einen kleinen Einblick in die Diversität der deutschen Fachhochschulen (FH) und Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAW) gewähren und einige dieser im Programm „FH-Personal“ geförderten Hochschulen vorstellen. Die bisherigen Interviews finden Sie hierhier und hier. Weiter geht es mit der TH Mittelhessen und der Jade Hochschule.

Das Bild zeigt ein Foto der Hochschulgebäude.
Quelle: Jade Hochschule / THM, Collage: PtJ

Herr Weisensee, Sie sind seit 2015 Präsident der Jade Hochschule. Was ist das Besondere an Ihrer Hochschule und was unterscheidet sie von anderen Hochschulen?

Weisensee: Da sind drei Dinge zu nennen: Die Lage, die Geschichte und die Konstellation, in der wir uns mit anderen Hochschulen befinden. Zur Lage: Die Studienorte liegen im Küstenbereich, den viele nur aus dem Urlaub kennen – das ist natürlich auch ein guter Slogan bei der Gewinnung von Personal und Studierenden: „Studieren, wo andere Urlaub machen“. Zur Geschichte: In Elsfleth, dem ältesten unserer Studienorte, gibt es schon seit 1832 eine Seefahrtsschule. Viel ältere HAW/FH gibt es wohl kaum. Seit Gründung der Fachhochschulen im Jahr 1971 haben wir dann einige Veränderungen durchlebt, bis wir den heutigen Zuschnitt erhalten haben. Damit zur Konstellation: Wir haben derzeit einen eigenen Paragraphen im niedersächsischen Hochschulgesetz, der uns zur Kooperation mit der Universität Oldenburg und auch mit der Schwester-Hochschule Emden/Leer verpflichtet. Das gibt es wahrscheinlich so in keinem anderen Hochschulgesetz.

Wie bewegt sich Ihre Hochschule in der Region? Welche Bedeutung hat sie für die Region?

Weisensee: Wir sind für die Fachkräfte-Versorgung in der Region absolut essentiell, wobei wir vor allem in der Seefahrt, den Ingenieurwissenschaften und dem Gesundheitssektor vor besonderen Herausforderungen stehen. Die hier ansässigen Unternehmen wollen wir primär mit Nachwuchs aus der Hochschule versorgen. Und deswegen kooperieren wir natürlich auch eng mit der Region, mit Unternehmen, Verwaltungen, Verbänden. Da hat auch das Bund-Länder-Programm “Innovative Hochschule”, in dem wir mit unserem Projekt den Wissens- und Technologietransfer vorantreiben, großen Anteil.

Herr Willems, Sie sind Präsident der TH Mittelhessen. Was unterscheidet ihre Hochschule von anderen Hochschulen?

Willems: Zum einen sind wir eine sehr große Hochschule, die zweitgrößte HAW/FH in Deutschland. Das hebt uns ab und verändert sicherlich auch viele Abläufe und Bedingungen. Zum anderen sind wir sehr fokussiert auf den Bedarf der Region. Ich würde sagen, das ist wahrscheinlich sogar noch etwas ausgeprägter als an vielen anderen Hochschulen. Wir bieten zum Beispiel viele duale Studiengänge an, da haben wir insgesamt 900 Partnerfirmen, mit denen wir Hessen ziemlich abdecken. Die Vernetzung wird dadurch natürlich stärker – aber nicht nur mit Unternehmen: Wir kooperieren beispielsweise auch sehr eng mit den Universitäten Marburg und Gießen.

Sie haben es gerade schon beschrieben: Sie arbeiten eng mit der Region zusammen. Wie sieht das im Alltag aus?

Willems: Wir haben ja mehrere Standorte, die in Mittelhessen gut verteilt sind. Das nutzen wir, um in den Standorten zu versuchen, unser Angebot auf die jeweiligen Bedarfe anzupassen. In Bad Hersfeld zum Beispiel sitzen sehr viele Logistikunternehmen. Da bieten wir den Studiengang Logistik an. Ähnlich ist es in Biedenkopf, einer kleinen Stadt mit ungefähr 15.000 Einwohnern. Dort sitzen einige Weltmarktführer in der lebensmittelproduzierenden Industrie. Deswegen bieten wir als Hochschule dort Studiengänge im Ingenieurwesen mit den entsprechenden Schwerpunkten an. Wir sind auch immer mit den Unternehmen im Gespräch: Welche Studiengänge braucht es? Und wenn wir da einen Bedarf erkennen, setzen wir das auch um.

Matthias Weisensee studierte Geodäsie an der TU Berlin und der TU Darmstadt. 1992 wurde er mit Auszeichnung am Institut für Photogrammetrie und Kartographie der TU Darmstadtzum Dr.-Ing. promoviert wurde. Anschließend arbeitete er bis 1997 am Institut sowie am Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung. 1997 wurde Weisensee Professor für Kartographie und Geoinformatik an der Fachhochschule Oldenburg. Von 1999 bis 2001 war er Dekan des Fachbereichs Vermessungswesen und ab 2005 Vizepräsident der Fachhochschule Oldenburg/Ostfriesland/Wilhelmshaven bzw. deren Nachfolgeinstitution, der Jade Hochschule. Dabei war er für verschiedene Ressorts verantwortlich, zuletzt für Gleichstellung, Weiterbildung sowie Forschung und Transfer. Am 1. September 2015 trat Weisensee das Amt des Präsidenten der Jade Hochschule an.

 

Gibt es etwas, um das Sie andere – zum Beispiel kleinere Hochschulen – beneiden?

Willems: Manchmal denke ich mir, dass sich eine kleinere Hochschule sicherlich einfacher managen ließe. Aber die Größe bringt auch viele Vorteile mit sich.

Herr Weisensee, wie ist es bei Ihnen?

Weisensee: Es gibt sicherlich Hochschulen, die etwas besser bezahlen können, als das bei uns möglich ist. Aber dann können wir damit punkten, dass Grundstücke in Wilhelmshaven recht günstig sind. Um es ein bisschen übertrieben zu formulieren: Für das, was Sie in Düsseldorf für ein Reihenmittelhaus bezahlen, bekommen sie in Wilhelmshaven einen Resthof mit einigen Hektar Land, ein Pferd auf der Weide und noch den Anhänger dazu. So gleicht sich das dann aus. Und schön ist natürlich, dass hier die Wege kurz sind. Da lassen sich manche Projekte auch schnell umsetzen.

Kommen wir zum Thema „FH-Personal.“ Herr Willems, welche Erfahrung haben Sie in den vergangenen Jahren bei Berufungen gemacht?

Willems: Das ist sehr unterschiedlich. In manchen Bereichen – zum Beispiel BWL und Mathematik – läuft es ganz gut. Doch je technischer es wird, desto schwieriger wird die Berufung. Da müssen wir oft in die zweite, dritte Ausschreibung und haben immer noch Schwierigkeiten, Personal zu gewinnen.

Vor welchen Herausforderungen stehen Sie?

Willems: Eine unserer großen Herausforderungen ist es, den Frauenanteil zu erhöhen. Da sind wir – vor allem aufgrund unserer Fächerspektrums – aktuell bei ungefähr 13 Prozent. Bis 2025 wollen wir 20 Prozent schaffen. Das klingt auf den ersten Blick nicht nach viel: Aber das ist eine große Aufgabe, weil sich die Dinge nicht von heute auf morgen ändern lassen. Da müssen sie Studentinnen motivieren, später Doktorandinnen, und dann kann es einige Jahre dauern, bis sie tatsächlich eine HAW/FH-Professorin gefunden haben. Eine weitere Herausforderung ist sicherlich auch die Region. Wir haben hier in Mittelhessen eine enorme Lebensqualität. Aber wir sind halt nicht Köln oder München, keine Metropole. Das spielt für viele Bewerberinnen und Bewerber auch eine Rolle.

Matthias Willems studierte Medizinische Informatik an der Universität Heidelberg und der FH Heiilbronn. 1991 promovierte er an der Universit#t Ulm zum Dr. rer. biol. hum, drei Jahre später qualifizierte sich an der École Nationale des Ponts et Chaussées in Paris zum Executive M.B.A. weiter. Von 1991 bis 2002 arbeitete Willems für verschiedene Softwareunternehmen. Zuletzt war er Mitglied der Geschäftsleitung bei Oracle Deutschland in Frankfurt am Main. Im Jahr 2003 folgte Willems einer Berufung als Professor für Praktische Informatik an die Fachhochschule Gießen-Friedberg (heute Technische Hochschule Mittelhessen). Im Oktober 2015 wählte der Senat der Hochschule Willems zum Präsidenten der THM. 

Herr Weisensee, welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Weisensee: Wir haben zum Teil richtig gute Erfahrungen gemacht, vor allem durch Kooperationen. So konnten wir unsere Informatik-Professuren immer ziemlich gut besetzen, weil es in Oldenburg ein großes Informatik-Institut gibt, das viele Absolventinnen und Absolventen mit entsprechenden Ambitionen und Voraussetzungen für eine HAW/FH-Professur hervorbringt. In anderen Bereichen ist es dagegen problematisch. Zum Beispiel haben wir gerade unsere erste Professur in den Hebammenwissenschaften besetzt, das war schon eine hohe Hürde, die wir da nehmen mussten. Sowieso ist es nicht gerade leicht, spezielle Professuren wie beispielsweise auch die für Kapitäne zu besetzen. Da brauchen Sie Menschen mit einem nautischen Patent, mit wissenschaftlicher Qualifikation, Berufserfahrung, didaktischen Kenntnissen und Fähigkeiten. So viele gibt es davon nicht. Und in anderen Fächern, zum Beispiel im Ingenieurbereich, ist der Markt einfach leergefegt.

Vor welchen Herausforderungen stehen Sie noch?

Weisensee: Es ist manchmal schwierig Bewerberinnen und Bewerber davon zu überzeugen, in unsere Region zu ziehen. Das Argument „Arbeiten, wo andere Urlaub machen“ zieht nicht immer. Wir unternehmen auch große Anstrengungen, für Partnerinnen und Partner eine berufliche Perspektive zu finden. Aber das ist nicht so leicht. Zudem sind wir zurzeit verkehrstechnisch noch nicht optimal angebunden, da die Zugverbindungen ausgebaut werden müssen.

Welche Ideen haben Sie für die kommenden Jahre?

Weisensee: Da ist eine ganze Reihe zu nennen. Zunächst ist es uns wichtig, dass wir in den sehr spezifischen Fächern Menschen qualifizieren, die dann in drei, vier Jahren mit Fug und Recht für eine Professur an einer HAW/FH in Frage kommen könnten. Da arbeiten wir aus zwei Richtungen: Zum einen mit berufserfahrenen Menschen, die die notwendige wissenschaftliche Qualifikation erlangen sollen. Zum anderen mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Praxiserfahrung brauchen. Da kooperieren wir natürlich eng mit anderen Hochschulen, auch um Befangenheits-Problematiken in der Berufungskommission vorzubeugen. Und dann wollen wir zudem unsere Prozesse professionalisieren und digitalisieren. Da haben wir Arbeit vor uns.

Was können Sie durch „FH-Personal“ realisieren, was vorher nicht möglich gewesen wäre?

Weisensee: Das Programm ist sicherlich ein Segen für uns. Wir haben zwar vorher schon versucht, zum Beispiel in kooperativen Promotions-Programmen für Nachwuchs zu sorgen – aber das können wir jetzt auf einem ganz anderen Level.

Herr Willems, was haben Sie vor?

Willems: Das Programm macht es uns endlich möglich, die ganzen Ideen, die wir schon seit Jahren so haben, mal ernsthaft anzugehen. Sonst waren dafür einfach keine Kapazitäten vorhanden. Es braucht jemanden, der sich das anschaut, durchdenkt, mit uns bespricht, die Sache vorantreibt. Da kann so eine Projektleitung einfach Gold wert sein. Insgesamt wollen wir auch das Einbinden unserer Partner professionalisieren. Bisher läuft das alles etwas auf Zuruf, da habe ich mich zum Beispiel um einzelne Fälle gekümmert – weil ich die drei, vier Unternehmen kannte, die für eine Zusammenarbeit in Frage kommen. Ich habe dann zum Telefon gegriffen. Das wird sich jetzt ändern.

Welche Maßnahmen wollen Sie umsetzen?

Willems: Erstens wollen wir scouten, Nachwuchskräfte gezielt ansprechen. Zweitens wollen wir geteilte Professuren anbieten, in denen Talente ihre Zeit in Unternehmen und Hochschule aufteilen. Drittens wollen wir unser Onboarding verbessern und unsere Attraktivität für Frauen steigern. Davon versprechen wir uns viel.

Am Ende würden wir Sie um einen kurzen Pitch bitten: Was macht eine HAW/FH-Professur für Sie attraktiv?

Weisensee: Für mich ist das definitiv der schönste Beruf der Welt, im wahrsten Sinne des Wortes eine Berufung. Ich bin selbst aus Überzeugung HAW/FH-Professor geworden – und kann mir auch nicht vorstellen, dass ich jemals wieder etwas Anderes anstreben würde. Man kann praxisnah arbeiten, interdisziplinär und mit einer Vernetzung auch in die Breite. Das ist es, was mir an diesem Beruf so gut gefällt.

Willems: Es ist der beste Job, den man haben kann. Sie haben mit jungen Menschen zu tun, sie können sich in Dinge einarbeiten. Sie haben unendlich viele Entwicklungsmöglichkeiten: Sie können sich einfach selbst verwirklichen.